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Cornwell, Patricia:
Gefahr (At Risk), Hoffmann und Campe, 2006, S. 5-8

1. Kapitel

Den ganzen Tag hat ein Herbststurm auf Cambridge eingepeitscht, nun schickt er sich an, in der Nacht das große Finale zu geben. Blitze durchzucken den Himmel, und es donnert, als Winston Garano (von den meisten "Win" oder "Geronimo" genannt) in der abendlichen Dämmerung am östlichen Rand des Harvard Yard entlangläuft.

Er hat keinen Regenschirm. Keine Jacke. Sein Hugo-Boss-Anzug und sein dunkles Haar sind durchnässt und kleben an ihm, die Prada-Schuhe sind völlig durchweicht und schmutzig, weil er beim Aussteigen aus dem Taxi in eine Pfütze getreten ist. Der schwachsinnige Taxifahrer hat ihn natürlich an der falschen Adresse abgesetzt, nicht vor dem Harvard Faculty Club in der Quincy Street 20, sondern beim Fogg Art Museum, aber eigentlich war das Wins Schuld. Als er am Logan International Airport ins Taxi stieg, sagte er zum Fahrer Harvard Faculty Club, das ist in der Nähe vom Fogg, weil er fand, diese Kombination klinge nach einem Harvard-Absolvent oder Kunstsammler, und nicht nach dem, was er wirklich ist, nämlich ein Beamter der State Police von Massachusetts, der sich vor siebzehn Jahren in Harvard bewarb und abgelehnt wurde.

Dicke Regentropfen trommeln ihm wie nervöse Finger auf den Kopf. Als er auf den abgetretenen roten Ziegelsteinen inmitten des altehrwürdigen Harvard Yard steht und sieht, wie Menschen in Autos und auf Rädern vorfahren, andere zu Fuß vorbeigehen, unter Schirme geduckt, bekommt er Beklemmungen: Diese Menschen sind privilegiert, sie gehören hierher und wissen es, sie haben ein Ziel.

"Entschuldigung", sagt Win zu einem Studenten in schwarzer Windjacke und ausgeblichenen Baggy-Pants. "Die Mensa-Club-Preisfrage des Tages?"

"Hä?" Der junge Mann blickt ihn mürrisch an, er hat gerade die Einbahnstraße überquert, einen durchweichten Tornister auf dem Rücken.

"Wo ist der Faculty Club?"

"Dort drüben", erwidert der Student unnötig patzig, weil Win bestimmt wissen würde, wo der Faculty Club ist, wenn er ein wichtiger Gast oder ein Fakultätsmitglied wäre.

Win steuert auf ein schönes Gebäude im Georgian-Revival-Stil mit grauem Schieferdach zu, im ziegelroten Innenhof blühen weiße Regenschirme. Warm leuchten die Fenster in der zunehmenden Dunkelheit, und das leise Plätschern eines Springbrunnens vermischt sich mit dem Prasseln des Regens. Win geht über die rutschigen Pflastersteine zum Eingang, fährt sich mit den Fingern durchs nasse Haar. Im Haus sieht er sich um, als habe er gerade einen Tatort betreten, registriert die Umgebung, bildet sich eine Meinung über den Raum, der vor über einem Jahrhundert der Salon eines wohlhabenden Aristokraten gewesen sein muss. Er mustert Mahagoni-Vertäfelung, persische Teppiche, Messingkandelaber, Ankündigungen von viktorianischen Theatervorstellungen, Ölporträts und eine alte, auf Hochglanz polierte Treppe, die zu Räumen führt, die Win wohl niemals betreten wird.

Er nimmt auf einem harten antiken Sofa Platz; eine Großvateruhr verrät ihm, dass er auf die Minute pünktlich ist. Die Staatsanwältin Monique Lamont (er nennt sie "Money La-Mount"), die Frau, die sein Leben bestimmt, ist hingegen nicht zu sehen. In Massachusetts sind die Staatsanwälte am District Court für Mordfälle zuständig und verfügen über ein eigenes Ermittlungsteam der State Police. Das bedeutet, dass Lamont jeden ihr genehmen Beamten in ihre persönliche Einheit beordern und jeden, der ihr nicht passt, hinauswerfen kann. Win gehört ihr, und sie hat ihre ganz eigene Art, ihn daran zu erinnern.

Dies ist der jüngste und schlimmste in einer Reihe politischer Winkelzüge und manchmal kurzsichtiger Entscheidungen, die Win manchmal Lamonts Phantasie zuschreibt. Diese Frau wird getrieben von unersättlichem Ehrgeiz und Machtwillen. Da beschließt sie aus heiterem Himmel, ihn in den Süden nach Knoxville, Tennessee, zu schicken, wo er die National Forensic Academy besuchen soll, und wenn er wiederkommt, soll er seine Kollegen über die neuesten Entwicklungen bei der Tatortermittlung aufklären, ihnen zeigen, wie man es richtig macht, fehlerfrei. Ihnen zeigen, wie man sicherstellt, dass keine Ermittlung, und damit meine ich niemals, nie und wirklich nie, durch falschen Umgang mit Beweismitteln, nicht befolgte Vorschriften und versäumte Analysen verpatzt wird, sagte sie. Er versteht das nicht. Die Massachusetts State Police verfügt schließlich über Tatort-Spezialisten. Warum werden die nicht nach Knoxville geschickt? Aber Lamont würde nicht darauf eingehen. Sie will sich nicht erklären.

Win blickt auf seine durchnässten Schuhe, die er für 22 Dollar in einem Secondhand-Laden für Designerbekleidung gekauft hat. Auf seinem grauen Anzug, für 120 Dollar im selben Geschäft erstanden, entdeckt er die ersten getrockneten Regenflecken. Er hat dort schon viele Designerstücke zum Schnäppchenpreis bekommen, denn sie sind gebraucht, stammen von reichen Menschen, die ihrer erst kürzlich für viel Geld gekauften Edelklamotten schnell wieder überdrüssig sind, oder von Kranken und Toten. Win wartet und macht sich Gedanken, fragt sich, was wohl so wichtig sein mag, dass Lamont ihn den weiten Weg von Knoxville herbestellt hat. Ihr arroganter Pressesprecher Roy, das Weichei, hatte Win am Morgen angerufen, ihn aus dem Unterricht holen lassen und ihm ausgerichtet, er solle den nächsten Flieger nach Boston nehmen.

Jetzt sofort? Warum?, protestierte Win.

Weil sie es will, erwiderte Roy.

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