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le|se|pro|beChabon, Michael: Als dem so genannten "Stausee-Phantom" wegen mehrfacher Vergewaltigung der Prozess gemacht wurde, gaben sich einige seiner weiblichen Opfer öffentlich in der Zeitung zu erkennen. Der Angeklagte, der schließlich zu fünfzehn Jahren Haft in Pelican Bay verurteilt wurde, war ein beliebter Mathematiklehrer und Trainer an einer Highschool in Valley, einem Stadtteil von Los Angeles. Für seine herausragenden Leistungen als Pädagoge hatte er eine Auszeichnung des Bundesstaats Kalifornien erhalten. Zwei Dutzend gegenwärtiger und ehemaliger Schüler und Spieler sowie der Direktor erboten sich, den guten Charakter des Täters vor Gericht zu bezeugen. Die unangefochtene Stellung des Mannes in seinem sozialen Umfeld und die fehlerhafte Handhabung eines wichtiges Beweisstücks ließen einige Opfer zu dem Schluss kommen, es sei ihre Pflicht, den traditionellen Schleier der Anonymität, den die Polizei von L.A. und die Zeitungen über sie gedeckt hatten, zu lüften und ihre schmerzliche Geschichte nicht nur den Geschworenen, sondern der ganzen Welt zu erzählen. Das zweite von den acht Opfern des Stausee-Phantoms war nicht dabei. Diese Frau war überfallen worden, als sie am 7. August 1995 in der Dämmerung um den Lake Hollywood joggte. Es war die vom Täter bevorzugte Tageszeit und eine der drei Orte, die er für seine Attacken favorisierte (die anderen waren die Stauseen von Stone Canyon und Franklin); dieses vorhersagbare Verhalten führte schließlich zu seiner Ergreifung am 29. August. Am Tag vor der Festnahme verriet die blassrosa Bestätigung in Form eines Kreuzes, fixiert im Entwicklerbad ihres Urins, dem zweiten Opfer, Cara Glanzman, dass sie schwanger war. Cara, eine Casting-Agentin, war mit Richard Case verheiratet, Kameramann beim Fernsehen. Beide waren vierunddreißig Jahre alt. Sie hatten sich an der Bucknell University kennen und lieben gelernt und waren seit 1985 verheiratet. In den zwölf gemeinsamen Jahren hatten sie einander nie betrogen, und Cara war in dieser langen Zeit nicht einmal schwanger geworden, weder unbeabsichtigt noch als sie alles darangesetzt hatte. In den letzten fünf Jahren von Caras und Richards Ehe war diese ununterbrochene Folge von Regelblutungen ein Quell von Schmerz, Auseinandersetzungen, Gefühlsausbrüchen und Anschuldigungen gewesen. An dem Tag, als sie vergewaltigt wurde, hatte Cara sogar die Freundin ihrer besten Freundin angerufen, eine Anwältin, um sich einmal unverbindlich und sonderbar hoffnungsfroh über die Möglichkeiten und Prozeduren einer Scheidung in Kalifornien zu erkundigen. Nach dem Übergriff wurde sie das Gefühl nicht los, bestraft worden zu sein, weil sie Richard hintergangen hatte, deshalb hätte sie wohl auch dann nicht zu den Frauen gehört, die schließlich den Mund aufmachten, wenn sie von Derrick James Coopers nicht plötzlich ein Kind erwartet hätte. Nachdem Cara die Schwangerschaft von ihrem Frauenarzt hatte bestätigen lassen, vereinbarte sie umgehend den Termin für eine Abtreibung. Diese Entscheidung traf sie aus dem Bauch heraus, als sie auf dem knitternden Papier des Untersuchungstisches saß und merkte, wie ihr Magen aus Ekel vor dem Klumpen grauer Zellen, der in ihrem Schoß wuchs, revoltierte. Ihr Arzt, dessen Bemühungen in den vergangenen fünf Jahren ausschließlich auf das umgekehrte Ziel gerichtet gewesen waren, sagte, er könne sie verstehen. Er setzte den Eingriff für den kommenden Nachmittag an. Als sie abends im Bett - Cara ging noch immer ungern bei Dämmerung oder Dunkelheit aus dem Haus - das Essen vom indischen Lieferservice verzehrten, eröffnete Cara Richard, sie sei schwanger. Er nahm die Nachricht mit derselben traurigen Ruhe auf, die er seit dem dritten Tag nach dem Übergriff bekundete. Da hatte er die stündlichen Anrufe bei den mit dem Fall beauftragten Polizeibeamten eingestellt und seine sporadischen Tränen endgültig getrocknet. Jetzt drückte er Caras Hand und schaute auf seinen Teller, den er in der Senke zwischen seinen überschlagenen Beinen balancierte. Seinen letzten Dreh hatte er mitten in einer Einstellung abgebrochen und in den vergangenen drei Wochen nichts anderes getan, als Cara von vorne und hinten zu bedienen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Aber abgesehen von tröstenden Bemerkungen und sanften Ermahnungen, zu essen, sich anzuziehen und Termine einzuhalten, hatte er offenbar so gut wie nichts zu dem zu sagen gewusst, was Cara zugestoßen war. Sein Schweigen verletzte und verstörte sie, aber sie redete sich ein, er sei sprachlos vor Trauer, ein Gefühl, das er noch nie angemessen hatte zum Ausdruck bringen können. Zum Schweigen gebracht worden war Richard indes von seiner Angst, was passieren würde, wenn er es je wagen sollte, seine Gefühle in Wort zu fassen. Bei sonderbaren täglichen Verrichtungen - wenn er den Radiosender umstellte, wenn er sich durch die Seiten der Zeitung schälte, um zu den Sport-Statistiken zu gelangen - folterte und tötete er den Vergewaltiger in schimmernden Pink- und Rottönen. Um drei Uhr nachts fuhr er im breiten, daunigen Ehebett hoch, sah, wie Cara sich schlummernd an ihn schmiegte, und erschrak über ihre Illusion von Sicherheit in seinen Armen. Polizei, Anwälte, Zeitungsreporter, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter, sie waren ausnahmslos Narren, menschliche Enttäuschungen, Lügner, verachtenswerte Scharlatane, Versager. Und was am schlimmsten war: Richard merkte, dass eine grausame Hand heimlich dünne Glühdrähte des Ekels vor seiner Frau in seinem Herz verlegt hatte. Wie konnte er das auch nur ansatzweise in Worte fassen? Und wem gegenüber? Als sie an dem Abend ihr flüchtiges Mahl zu sich nahmen, bedrängte Cara ihn, sich zu äußern. Die geschwungene Buchstabenfolge von Proteinen, die zu produzieren sie sich so lange bemüht hatten, für die sie Jahre verschwendet und Arztrechnungen in Höhe von zehntausend Dollar angehäuft hätten, sei nun doch in Cara hineingekritzelt worden, jedoch von der Hand eines Vandalen; und nun würde sie am nächsten Tag innerhalb von zehn Minuten ausradiert werden. Er müsse doch irgendetwas fühlen. Richard zuckte mit den Schultern und hantierte mit seiner Gabel herum, drehte und wendete sie, als suche er nach der Prägung. In den letzten Jahren war er, wie jetzt, viele Male kurz davor gewesen, Cara zu gestehen, dass er im tiefsten Grunde seines Herzens nicht unbedingt Kinder haben wollte, dass ihn das unerschütterliche Gefühl nicht losließ, die Unfruchtbarkeit ihrer Ehe habe eventuell auch eine übertragene Bedeutung. Doch bevor er den Mut aufbrachte, Cara zu sagen, dass er nicht nur mit Genugtuung, sondern mit Erleichterung zusehen würde, wenn der Arzt am nächsten Tag das Wechselbalg aus ihrem Schoß spülte, sprang sie aus dem Bett, rannte ins Badezimmer und erbrach das gerade gegessene Matar Paneer, Daal Saag und Hühnchen Tikka Masala. Mit dem Gedanken, dass er diese spezielle Pflicht zum letzten Mal ausübte, erhob sich Richard, um ihr nebenan das Haar aus dem Gesicht zu halten. Sie schrie ihn an, er solle die Tür zumachen und sie in Ruhe lassen. Als sie aus dem Bad kam, wirkte sie blass und einsam, aber gefasst. "Ich sag das morgen ab", teilte sie ihm mit. Da er so lange nichts gesagt hatte, blieb ihm in dem Moment nichts anderes, als automatisch zu erwidern: "Das kann ich verstehen." |